Das ungeliebte Gedenken? Der 17. Juni 1953 und unsere Gegenwart
Einleitung
Der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk beschäftigt sich in seinem Essay mit dem Aufstand vom 17. Juni 1953 in der DDR und setzt sich kritisch mit dem Umgang der Deutschen mit diesem historischen Datum auseinander. Er analysiert die Deutungen des Aufstandes und deren Konsequenzen für unsere Gegenwart.
Der Aufstand vom 17. Juni 1953
Der Aufstand vom 17. Juni 1953 war ein spontaner Ausbruch von Protesten, Streiks, Demonstrationen und Kundgebungen gegen das SED-Regime in der DDR. Etwa eine Million Menschen beteiligten sich in über 700 Städten und Gemeinden an den Protesten, die für Demokratie, Freiheit und Einheit eintraten. Der Aufstand war jedoch chancenlos, da weder die Alliierten noch der Kreml Interesse daran hatten, die Nachkriegsordnung von Jalta und Potsdam zu verändern. Die Sowjetarmee reagierte entschlossen, aber im Gegensatz zum Ungarn-Aufstand drei Jahre später nicht brutal. Die meisten Todesopfer auf Seiten der Demonstranten wurden durch Querschläger getötet. Der Aufstand wurde größtenteils auf Ost-Berlin beschränkt dargestellt und immer stärker als sozialpolitischer Konfliktfall reduziert.
Die Deutung des Aufstandes
Der Kampf um die Deutung des Aufstandes begann unmittelbar nach seinem Ausbruch. In der DDR wurde der Aufstand stets als “faschistischer Putschversuch” dargestellt, der angeblich vom Westen aus inszeniert wurde. In der Bundesrepublik hingegen wurde der Aufstand zum Tag der Deutschen Einheit erklärt. Mit dem Mauerbau 1961 begann jedoch eine Umdeutung, bei der der Aufstand auf einen Arbeiteraufstand und sozialpolitischen Konfliktfall reduziert wurde. Diese Umdeutung wurde auch politisch motiviert, da die Zeichen auf Reform standen und nicht auf Revolution.
Das ungeliebte Erbe
Der 17. Juni wurde durch verschiedene politische Instrumentalisierungen im Osten und Westen belastet. Nach der deutschen Einheit im Jahr 1990 wurde der Feiertag zum 3. Oktober zugunsten eines technokratischen und blutarmen Feiertags abgeschafft. Heute spielt der 17. Juni in der Gesellschaft und im gesellschaftlichen Geschichtsbewusstsein kaum eine Rolle. Das Wissen über den Aufstand ist selbst in Historikerkreisen bescheiden. Die Gründe dafür sind vermutlich banal: Die Vergangenheit ist mit Emotionen verbunden, die mit dem historischen Ereignis wenig zu tun haben. Zudem passt der 3. Oktober womöglich besser zu Deutschland als der 17. Juni.
Die Bedeutung des Gedenkens
Warum gibt es so wenig Interesse an der gescheiterten Revolution von 1953? Kowalczuk vermutet, dass es mit unserer aktuellen Gesellschaft zu tun hat, die mehr Wert auf Hedonismus als auf Leistung und Engagement legt. In einer Gesellschaft, in der die Work-Life-Balance über allem steht und die materielle Sattheit ganzer Generationen mit dem Existenzkampf vergangener Generationen wenig gemeinsam hat, kann die Geschichte des Freiheitskampfes irritieren und die eigene Lebensweise in Frage stellen. Diese Ignoranz gegenüber vergangenen Freiheitskämpfen kann auch zu einer Ignoranz gegenüber aktuellen Freiheitskämpfen führen, wie beispielsweise dem Kampf für globale Gerechtigkeit oder gegen den Klimawandel.
Der Kampf für Freiheit und Demokratie
Angesichts der Tatsache, dass viele Menschen in Ost- und Westdeutschland die AfD wählen und dem politischen System skeptisch gegenüberstehen, ist es wichtig, diejenigen zu unterstützen und zu stärken, die sich für Demokratie und Freiheit einsetzen möchten. Es sollte darüber diskutiert werden, die Anzahl der möglichen Legislaturperioden für Wahlämter zu begrenzen, um den Druck zu verringern, nur wiedergewählt zu werden. Zudem sollten die Partizipationsmöglichkeiten erweitert werden, um die Demokratie zu stärken. Das Geschichtsbewusstsein spielt dabei eine wichtige Rolle. Wissen über vergangene Kämpfe und Ereignisse kann helfen, demokratische Werte zu verteidigen und Extremismus vorzubeugen. Es ist bedauerlich, dass an deutschen Universitäten kein Lehrstuhl für Kommunismusgeschichte existiert und zukünftige Geschichtslehrer nur unzureichend mit der DDR- und Kommunismusgeschichte vertraut gemacht werden.
Abschluss
Der 17. Juni 1953 spielt in der heutigen Gesellschaft eine geringe Rolle. Es ist wichtig, das Gedenken an dieses historische Ereignis zu bewahren und die Bedeutung von Freiheit und Demokratie in unserer Gesellschaft zu stärken. Es sollten Maßnahmen ergriffen werden, um diejenigen zu unterstützen, die sich für diese Werte einsetzen und das politische System aktiv mitgestalten möchten. Das Geschichtsbewusstsein spielt dabei eine entscheidende Rolle, um die Ereignisse der Vergangenheit zu verstehen und für die Gegenwart zu lernen.
<< photo by Pat Whelen >>
Das Bild dient nur zur Veranschaulichung und stellt nicht die tatsächliche Situation dar.
Sie könnten lesen wollen !
- James Vowles: Die Formel 1 wird noch viele Jahre keine weiblichen Fahrerinnen sehen
- Formel 1, Mercedes beharrlich: Die Debatte um die Seitenkästen ist fehlgeleitet
- Angst: Wie Nico Santos mit Panikattacken umgeht
- Die literarische Welt trauert um Cormac McCarthy: Ein Nachruf
- Istanbul als Zwischenstopp auf dem Weg nach Palästina: Die historische und politische Bedeutung der türkischen Stadt für die Region.
- Der Durchbruch einer Tennis-Sensation: Iga Swiatek gewinnt die French Open – eine Analyse
- Brienz in der Schweiz: Bergdorf entgeht knapp einer Katastrophe – Gewaltiger Felssturz sorgt für Aufregung